16.01.2023
Das Deutsche Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 16.12.2021 (1 BvR 1541/20) den Gesetzeber beauftragt, mittels Gesetz dafür zu sorgen, dass bei einer pandemiebedingten Knappheit von Intensivpflegeplätzen Behinderte nicht diskriminiert werden. Daraufhin hat der Deutsche Bundestag am 09.11.2022 eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes beschlossen (Drucksache 20/4359). Zentrale Bestimmungen darin sind, dass bei der Zuteilung von knappen Ressourcen weder Behinderung, Gebrechlichkeitsgrad, Alter, Ethnie, Weltanschauung, Geschlecht oder sexuelle Orientierung eine Rolle spielen dürfen. Der Zuteilungsentscheid darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Ueberlebenswahrscheinlichkeit gefällt werden. Hat jedoch eine sog. Komorbidität (Begleiterkrankung) darauf erheblichen Einfluss, darf diese mitberücksichtigt werden. Ueber einen bereits zugeteilten Behandlungsplatz darf kein Zuteilungsentscheid mehr gefällt werden. Der Zuteilungsentscheid ist durch zwei Fachärzte / Intensivmedizinerinnen unabhängig voneinander zu fällen. Sind sich diese nicht einig, hat eine dritte Expertin den Stichentscheid. Soll der Entscheid zu Ungunsten einer behinderten bzw. komorbiden Person ausgehen, so muss auch noch eine Fachperson mit Expertise bei dieser Patientengruppe angehört werden.
Bei den politischen Akteuren bestand Einigkeit darin, dass die Diskussion rund um die Novelle begrüssenswert ist. Einzig von Seiten der Aerzteschaft wurde kritisiert, dass man die Triage auch schon ohne Gesetz korrekt umgesetzt hat. Die Behindertenverbände brachten allerdings eine schwerwiegende Kritik vor: Indem die Komorbidität in die Beurteilung einfliesst, haben Alte und Behinderte letztlich doch wieder die schlechtesten Karten. Diese Menschen haben meist Begleiterkrankungen, die vermutlich auch zu einer Herabsetzung der Ueberlebenswahrscheinlichkeit führen. Ob diese dann einen „erheblichen“ Einfluss haben, darüber lässt sich von Fall zu Fall trefflich streiten. Es ist also wohl nicht abwegig, dass bei der Wahl zwischen einem jungen sportlichen Mann und einer älteren dementen Frau der Entscheid tendenziell zu Gunsten des ersteren ausfällt. Nicht zu vergessen sei weiter, dass auch bei drei Medizinern immer dreimal subjektive Ansichten einfliessen. Der einzige Weg aus diesem Dilemma wäre somit ein Losverfahren. Aufgrund dieser Kritik ist nicht auszuschliessen, dass auch die Gesetzesnovelle das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird.
Selbstverständlich werden vergleichbare Diskussionen auch in der Schweiz geführt, ein Bundesgesetz ist allerdings nicht in Sicht. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie Richtlinien für die Triage erlassen. Der Bundesrat hatte die nationale Koordination der Intensivbettenverteilung an die Hand genommen, die Triage hätte dann allerdings jedes Spital selbst umsetzen müssen. Die Schwachstellen der Richtlinien sind, dass zwar ein Entscheid in einem interprofessionellen Team empfohlen wird, am Schluss sei aber die ranghöchste Intensivmedizinerin zuständig. Ein Losverfahren wird explizit ausgeschlossen. Bezüglich Behinderung und Alter kann auf das oben Gesagte verwiesen werden: Eine Diskriminierung dieser Personengruppe ist wahrscheinlich.
Die Aussichten bei einer künftigen Pandemie sind somit nicht erfreulich. Wir sind es gewohnt, jede Parkbusse gerichtlich beurteilen lassen zu können. Bei einer pandemiebedingten Triagesituation würde innert weniger Stunden von Aerzten über Leben und Tod entschieden. Ein solcher Entscheid ist dann in aller Regel endgültig – ausser eine Patientin erholt sich auch ohne Intensivpflege.